Es war einmal ein Engel. Manche Engel werden geboren, dieser Engel wurde geschaffen. Er war sofort erwachsen. Ein Schöpfer schuf ihn aus einem einzigen Holzstück. Und als der Engel fertig war, hielt der Schöpfer ihm einen Spiegel vor und fragte ihn: „Wie gefällst du dir?“ Und der Engel sagte: „Das ist schon ganz gut. Wallendes Haar, ein weißes Gewand und Flügel. Ich bin ein richtiger Engel“, sagte er. „Ein richtiger En-gel“, sagte sein Schöpfer. „Aber ich schiele“, sagte der Engel. „Ja“, sagte der Schöpfer. „Das habe ich nicht so hinbekommen. Engel sind eben wie Menschen. Sie sind nicht vollkommen.“ Und dann versuchte der Engel, seine Flügel zu bewegen. Es ging nicht. „Warum kann ich meine Flügel nicht bewegen?“, frage er. „Sie sind aus Holz“, sagte sein Schöpfer. „Du brauchst sie nicht zum Fliegen. Denn deine einzige Aufgabe ist es, den Menschen bei der Taufe zu helfen. Und dazu kommst du aus der Höhe herunter. Einmal in der Woche, einmal im Monat. Je nachdem, wann Menschen getauft werden.“ – „Aber dazu brauche ich doch Flügel.“ – „Nein, denn das macht ein Mensch für dich. Das ist überhaupt so bei den meisten Engeln: Sie brauchen Menschen, damit sie fliegen können.“
Und der Engel wurde an ein Seil gehängt und in die Höhe gehoben in der Kirche in Niendorf. Aus seiner Höhe sah er die Menschen singen und beten und weinen und lachen und andächtig hören. Er sah die Menschen, wie sie dösten und Quatsch machten und ihren Gedanken nachhingen, gelangweilt waren und interessiert. Und er dachte sich: Was diese Menschen wohl so denken?
Und einmal in der Woche, einmal im Monat kam er herunter und half bei der Taufe. und schon wenn er herunter schwebte, dann freute er sich über die staunenden Kinderaugen und wie sich die Erwachsenen freuten. Und er half bei der Taufe; er hielt die Schale.
Eines Tages wollte er mehr. Und er sagte sich: Vielleicht kann ich auch ohne Menschen fliegen? Und dann war es soweit. Ein unachtsamer Moment, ein kleiner Fehler in der Winde, und der Engel war frei. Er flog und flog und es war ein unbeschreibliches Gefühl.
Aber nur kurz. Denn schon bald kam er unten an. Sein Schöpfer hatte Recht gehabt. Seine Flügel konnte er nicht bewegen. Und so kam er ziemlich hart unten auf. Das ging nicht gut aus für seine Arme, und auch sein Bein war lädiert. Aber er fühlte keinen Schmerz, denn er war ja aus Holz. Und die Erinnerung an seinen Flug war unbeschreiblich.
Sofort kamen Menschen und trugen ihn weg. Das war auch ein gutes Gefühl – immer war er für Menschen da gewesen, jetzt waren Menschen für ihn da. Sie behandelten ihn gut. Die Arme wurden repariert, auch seine Beine. Und er war schöner als vorher.
Wir sind mittendrin in diesem Märchen. Unser Engel ist geflogen. Und wenn man ihn fragt, ob er es bereut, dann sagen sei-ne Augen: „Machst du Witze? Für nichts in der Welt würde ich dieses Erlebnis eintauschen. Nur schade, dass ich heute nicht bei der Taufe dabei sein kann.“ In der Tat, er ist nicht da. Aber er kommt wieder.
Erik Thiesen im Gottesdienst am 24.4.2016, Sonntag Kantate
Foto von dirtsc aus wikipedia.de
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